Überhängende Äste, damit verbunden ätzendes Laub und überschreitende Wurzeln aus Nachbars Garten verleiten dazu, vorschnell gestutzt und vernichtet zu werden. Zu Recht? Nein, denn das im Schweizerischen Zivilgesetzbuch ausdrücklich normierte Kapprecht als Selbsthilferecht im Nachbarschaftsverhältnis darf nur dann in Anspruch genommen werden, wenn auch die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Seien Sie also umsichtig, jetzt da der Frühling naht und die Gartenschere auf ihren baldigen Einsatz wartet.

Art. 687 ZGB normiert, dass der Nachbar überragende Äste und eindringende Wurzeln kappen und für sich behalten kann, wenn sie sein Eigentum schädigen und auf seine Beschwerde hin nicht binnen angemessener Frist beseitigt werden.

Was bedeutet dies im Einzelnen?

Zuerst das Gespräch suchen, dann die Gartenschere zücken: Suchen Sie trotz möglicher innerer Hemmungen zunächst das (klärende) Gespräch mit Ihrer Nachbarin oder Ihrem Nachbarn. Sie werden erstaunt sein, wie oft sich Ungereimtheiten und Herausforderungen bereits durch das aufeinander Zugehen schnell und dauerhaft lösen können. Finden Sie keine Einigung und bewirkt das Gespräch kein Einsehen, können Sie ein etwaiges Kapprecht erwägen.

Prüfen Sie, ob die Voraussetzungen für die Ausübung des Kapprechts vorliegen:

1. Handelt es sich um grenzübergreifende Äste und Wurzeln, die eine Schädigung ihres Nachbargrundstücks bewirken? Ihr Eigentum muss für die Ausübung des Kapprechts durch die nachbarlichen Pflanzen juristisch betrachtet "beschädigt" werden. In diesem Fall bedeutet eine Schädigung, dass wegen der überragenden Pflanze entweder ein Kulturschaden vorliegt oder eine übermässige Beeinträchtigung vorliegt wie z.B. durch Behinderung in der Bewirtschaftung, übermässige Feuchtigkeit infolge Schattenwurf, oder wenn wegen Laub-, Nadel oder Blütenfall aufwändige wiederkehrende Reinigungsarbeiten nötig sind. Die Schädigung muss zudem objektiv betrachtet "erheblich" sein. Ihr subjektives Empfinden müssen Sie an dieser Stelle einer Überprüfung unterziehen.

2. Beschweren Sie sich bei Ihrem Nachbarn bzw. Ihrer Nachbarin und setzen Sie Ihm bzw. Ihr eine angemessene Nachfrist zur Beseitigung der störenden und eindringenden Äste und Wurzeln. Bei der Frist müssen Sie jedoch der Vegetationsperioden, der Pflanzenart und auch der Intensität der Störung Rechnung tragen. Anstehende Bauarbeiten sind ebenfalls entsprechend zu berücksichtigen. Aus Beweisgründen empfehlen wir Ihnen hier einen eingeschriebenen Brief. Anzumerken ist hier sodann, dass Sie der Eigentümerin, die ihre überragenden Äste und Wurzeln zurückschneiden will, Zugang zu ihrem Grundstück zur Ausführung des Schnittes oder zum Beseitigen der geschnittenen Teile gewähren müssen. Verwehren können Sie den Zugang zur Unzeit oder falls Sie nicht vorgängig um Zugangsgewährung ersucht wurden. Von selbst versteht sich, dass allfällig durch das Zurückschneiden entstandener Schaden vom Verursacher zu ersetzen ist.

3. Schneiden Sie, oder lassen Sie schneiden: Reagiert Ihr Nachbarn bzw. Ihre Nachbarin nicht innerhalb der angemessenen Frist, dürfen Sie Ihr Kapprecht im Sinne eines "letzten Auswegs" ausüben. Wichtig hierbei ist, dass Sie die Pflanzen fachmännisch zurückschneiden (lassen) und dies nur bis zur Grundstücksgrenze. Das dadurch anfallende Holz dürfen Sie behalten. Allfällig anfallende Kosten müssen grundsätzlich Sie übernehmen, es sei denn, Sie klagen alternativ beim zuständigen Richter auf Beseitigung der z.B. überhängenden Äste. Je nach Umfang der störenden Situation macht dies durchaus Sinn. Im Hinterkopf zu behalten ist jedoch, dass wenn Sie das Kapprecht zu Unrecht ausüben, Sie eventuell schadenersatzpflichtig werden und im ungünstigsten Fall sogar vor Gericht landen.

An seine Grenzen stösst das Kapprechts, wenn eine Pflanze durch natur- und heimatschutzrechtliche, raumplanerische oder andere Massnahmen des öffentlichen Interesses in ihrer Daseinsberechtigung geschützt ist. Grundsätzlich gilt, dass dass die öffentlich-rechtlichen Bestimmungen zum Schutz von Pflanzen dem Privatrecht vorgehen. Dies stellt ein Herausforderung dar, wenn ein Pflanzeneigentümer nachbarrechtlich zwar zur Beseitigung oder zum Zurückschneiden seiner Pflanze verpflichtet ist, andererseits die Erhaltung der Pflanze durch eine öffentlich-rechtliche Vorschrift Bestand hat. In einer solchen Situation ist im Baubewilligungsverfahren zu prüfen, wie mit der geschützten Pflanze umzugehen ist und ob allenfalls in einem Bauprojekt Schutzmassnahmen zu Gunsten des Baumes angeordnet werden. Je nachdem kann versucht werden, die Aufhebung der Unterschutzstellung zu erwirken. Ob das gelingt, ist jedoch jeweils einzelfallabhängig.

Im Gegensatz zu den kantonal und kommunal geregelten nachbarrechtlichen Vorschriften über Grenzabstände und Höhen von Hecken, Sträuchern und Bäume ist das Kapprecht abschliessend auf Bundesebene, d.h. einheitlich geregelt. Es ist zudem unverjährbar, was bedeutet, dass das Diskussionsargument "die Pflanze sei schon seit Jahren dort" nicht zieht. Steht eine Pflanze ganz genau auf der Grenze zwischen zwei Grundstücken, so stehen sie zudem im Miteigentum der Nachbarn, sofern nicht etwas anderes vereinbart, ortsüblich oder vorgeschrieben ist (vgl. ZGB 670).

Vom Kapprecht zu unterscheiden ist sodann das nachbarrechtlich begründete Recht auf Anries (vgl. Art. 687 Abs. 2 ZGB). Das bedeutet, dass Sie die Früchte von herüberhängenden Ästen grundsätzlich ohne Entschädigung an sich nehmen dürfen. Das Recht gilt aber nur in Bezug auf bebauten oder überbauten Boden, nicht aber im Wald sowie bei Ästen, die auf öffentliche Strassen überragen.

01.03.2022, von MLaw Anina Linz, LL.M.

 

Streiten Sie schon oder möchten Sie präventiv Ihre (Nachbar-)Rechte abklären? Wir beraten Sie gerne und freuen uns auf Ihre Kontaktaufnahme sowohl per E-Mail als auch per Telefon. 

1588754184-8253-570.jpg

MLaw Anina Linz, LL.M.
Associate
T +41 61 555 13 45 | anina.linz@atag-law.ch


Diese Publikation als PDF herunterladen:

Einwilligung zur Nutzung Wir möchten die Informationen auf dieser Webseite und auch unsere Leistungsangebote auf Ihre Bedürfnisse anpassen. Zu diesem Zweck setzen wir sog. Cookies ein. Entscheiden Sie bitte selbst, welche Arten von Cookies bei der Nutzung unserer Website gesetzt werden sollen. Die Arten von Cookies, die wir einsetzen, werden in unserer Datenschutzerklärung näher beschrieben. Sie können Ihre Einwilligung später jederzeit ändern / widerrufen indem Sie in der Datenschutzerklärung entsprechende Anpassungen vornehmen. Mit Klick auf „Alles Ablehnen“ werden alle nicht notwendigen Cookies abgelehnt.